Inflation und Versicherer: Welche Lösungen für ein neues System?

"Nirgendwo ist bedacht worden, welch verhängnisvolle indirekte Steuer durch die ständig steigende  Inflation entsteht und welche Folgen sie hat“ - Rudolf Havenstein, 1922[1])

Eine hohe Inflation hat oft dramatische Folgen, wie das obige Zitat von Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein aus einem Brief von 1922 an den Gouverneur der US-Notenbank verdeutlicht. Die Ursachen sind häufig vielfältig. In der Regel umfassen sie eine schwache Wirtschaft, einen bedeutenden Kapitalabfluss aus dem Land, eine hohe Staatsverschuldung, Wirtschaftsbetrug in großem Ausmaß und exzessives „Gelddrucken“.

Die Geldschöpfung wird in den offiziellen Reden stets untertrieben, sei es von Cambon bei der Beschreibung der Assignaten während der Französischen Revolution oder von Havenstein über die Reichsmark während der Hyperinflation der Weimarer Republik. Was den Vertretern der Notenbank von New York selbst damals auffiel, war „die kuriose Vermeidung der Tatsache, dass die Zunahme der Geldmenge und nicht die Zunahme der schwebenden Schulden die direkte Ursache für die Abwertung der Mark ist – und damit eine Rechtfertigung für den Kurs der Reichsbank“.[2] In beiden genannten Zeiträumen verloren die Bürger  jedes Vertrauen in die Landeswährung, was zu tiefgreifenden Veränderungen in der Wirtschaft und der Gesellschaft führte.

 

So weit ist es noch nicht. Doch die Inflation ist nicht zu übersehen: In Deutschland stieg der Verbraucherpreisindex von Ende 2020 bis September 2022 um 16 %. Dies ist im Wesentlichen der gleiche Anstieg in weniger als zwei Jahren wie zwischen  Ende 2007 bis Ende 2020 in 13 Jahren.

Eine Inflation wie in letzter Zeit hat es seit vierzig Jahren nicht mehr gegeben. Selbst über einen längeren Zeitraum ist dieser Preisauftrieb bemerkenswert, wie die Grafik unten zur Entwicklung in Deutschland seit 1950 zeigt. (siehe Abbildung 1).

 

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Die Ursachen sind bekannt. Zuerst die enormen Liquiditätsspritzen in die Wirtschaft. Dann die Spannungen in den Lieferketten im Zusammenhang mit den Deglobalisierungstrends, die durch die Covid-Krise, den Krieg in der Ukraine und die Null-Covid-Politik in China beschleunigt wurden.

Der Marktkonsens rechnet nach wie vor mit einer moderaten langfristigen Inflation: Der 5-jährige Inflationsswap auf Sicht von fünf Jahren verharrte von März bis Oktober 2022 zwischen 2 % und 2,5 %. Diese Spanne entsprach in etwa dem Niveau der letzten Zeit. Das Ausmaß der Bewegung und ihre Dauer wurden jedoch größtenteils systematisch unterschätzt und die Folgen auf der Ebene der Zinssätze sind in der jüngeren Geschichte völlig beispiellos.

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Die absolute Höhe, die die Zinssätze Ende 2022 erreichten, erscheint im Vergleich zu den letzten 20 Jahren „normaler“, wie die Grafik oben zeigt. Dies trifft auch noch zu, wenn wir einen längeren Zeitraum ins Auge fassen, zum Beispiel in der NBER-Datenbank NBER Macrohistory: XIII. Interest Rates | NBER. Andererseits kann die Exorbitanz von Zinsänderungen die Wirtschaftsakteure in ihren Aktivitäten stören. Die Kombination aus hohen Inflationsraten, steigenden Zinssätzen und Spread-Ausweitung führte daher zu Kursrückgängen in allen Anlageklassen. (Abbildung 3)[3]

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Diese Schocks liegen noch nicht weit genug zurück, um alle Folgen für Versicherer zu beurteilen. Doch allmählich sind erste Trends zu erkennen.

Das Nichtlebengeschäft einer Versicherung wird durch die gestiegenen Beträge von Schadenforderungen und die höheren Kosten beeinflusst. Die Schaden-Kosten-Quoten verschlechtern sich. Die Aktivität in diesem Segment beruht hauptsächlich auf Verträgen mit Laufzeiten von einem Jahr. Nach dieser Zeit können die Versicherer ihre Prämien anheben. Daher könnte diese Verschlechterung nur von vorübergehender Natur sein. Die Anhebung von Versicherungsprämien wird jedoch durch den Konkurrenzdruck unter den Versicherungsgesellschaften beschränkt.

Die steigenden Zinssätze wirken sich begrenzt, aber weitgehend positiv aus: Die Investments haben in der Regel kurze Laufzeiten. Dies ermöglicht eine schnelle Umschichtung in Titel mit attraktiveren Renditen.

Die Inflation hat kaum direkte Auswirkungen auf Lebensversicherungen, doch die steigenden Zinssätze machen einen bedeutenden Unterschied.

Die Risiken für die Geschäftstätigkeit der Lebensversicherer sind sowohl bei fondsgebundenen Produkten als auch bei traditionellen Lebensversicherungsprodukten erheblich. Traditionelle Lebensversicherungen, die seit 2012 abgeschlossen wurden, weisen eine maximale garantierte Rendite von weniger als 2 % auf. Auf kurze Sicht können sie nicht mit den Angeboten von Banken konkurrieren, da sich die Anleiherenditen zwischen 2 % für Bundesanleihen und 4 % für Unternehmensanleihen bewegen. Hohe Stornoquoten könnten Versicherer zwingen, hohe Verluste aus Anleihen zu realisieren, die sie während der letzten sieben Jahre gekauft haben. Dies könnte zu einem Defizit bei der Zinszusatzreserve einiger Versicherungsgesellschaften führen und die Gewinnbeteiligungen werden vermutlich so schnell nicht angehoben werden. Bei fondsgebundenen Produkten könnte die Risikowahrnehmung der Versicherungsnehmer ebenfalls für lange Zeit erschüttert sein. Wie die Grafik Nr. 3 zeigt, haben mit niedrigeren Risikoprofilen assoziierte Anlageklassen, wie Staats- und Unternehmensanleihen von Januar bis Dezember 2022 zwischen 10 % und 15 % eingebüßt.

Andererseits dürften sich die Solvabilitätsquoten bestimmter Lebensversicherer durch den Anstieg der Zinssätze verbessern, vor allem bei solchen, die ihre Zinsrisiken nicht vollständig abgesichert haben. Versicherungsgesellschaften dürften auch von der Ausweitung der Spreads profitieren, die in der regulatorischen Diskontkurve für technische Rückstellungen teilweise berücksichtigt sind.[4]

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 Daher können Versicherungsgesellschaften und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit dieses Umfeld nutzen und ihre Investments anpassen. Anleihen bieten jetzt attraktivere Renditen. Unternehmensanleihen bieten die Möglichkeit, zu moderaten Kapitalkosten unter Solvency II vom Anstieg der Spreads zu profitieren. Vor der Mobilisierung angemessener Ressourcen sollten zunächst mehrere Aspekte beachtet werden.

  • Erstens: Festlegung einer ambitionierten ESG-Politik. Selbst bei sehr grundlegenden wirtschaftlichen Überlegungen ist die Versicherungswirtschaft mehr als jede andere Branche Naturkatastrophen ausgesetzt und steht daher an vorderster Front des Klimawandels. Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen stehen im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses. Hitzewellen und gewaltige Brände haben ganz Europa von Spanien bis Rumänien heimgesucht. Die Schlammfluten in Westdeutschland forderten im Jahr 2021 Hunderte von Menschenleben. Sie alle haben erhebliche Auswirkungen auf die von den Versicherern zu zahlenden Schäden. „Die Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber möglichen Katastrophen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“[5], erklärte Juliane Seifert, Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern und für Heimat, in einem Interview für den Gesamtverband der Versicherer.

Und für alle, die noch nicht vom Klimawandel überzeugt sind, lassen die Regulierungsbestimmungen für Finanz- und Versicherungsunternehmen keinen Spielraum, die Verantwortung zu vermeiden. ESG ist überall: In Informationspublikationen im Rahmen der Offenlegungsverordnung (SFDR), bei der Vermarktung von Produkten nach der EU-Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) und in Investmentprinzipien mit Integration von Nachhaltigkeitsrisiken gemäß dem „Prudent Person Principle” in Solvency 2 seit dem 2. August 2022. Die wahrscheinliche Einbeziehung von Umweltschocks in die Standardformel zur Berechnung der Kapitalanforderungen wird diese Dynamik weiter stärken.

  • Zweitens: Bestimmung des zu investierenden Betrags. Der Versicherer bewertet und plant seine Reinvestitionen auf Basis der erwarteten Netto-Cashflows und muss entscheiden, ob er die Zinszusatzreserve an die Versicherungsnehmer ausschüttet oder zu höheren Renditen reinvestiert. Der Umfang der vorzeitigen Rückzahlungen auf dem Hypothekenmarkt ist mit dem Anstieg der Zinssätze deutlich zurückgegangen. Das Gegenteil dürfte auch bei Lebensversicherungen der Fall sein, wenn die Finanzinstitute beginnen, Anlageprodukte mit höheren "sicheren" Renditen anzubieten. Abgesehen von den Zinssätzen und der Inflation ist das Verhalten der Versicherungsnehmer eher ungewiss und dürfte durch mehr Wettbewerb zwischen den Versicherern beeinflusst werden.
  • Drittens: Bestimmung der Kapitalallokation in der Investmentstrategie nach Anleihekategorie. Je nach dem Renditeziel und dem Kapitalbudget kann das Portfolio Anleihen mit höheren oder schwächeren Ratings umfassen.

 

Optimales Deckungsportfolio für 10-jährige Versicherungsverpflichtungen gemäß Risikokapitalbudget

 

Die nachstehende Tabelle zeigt einen vereinfachten, rein quantitativen Portfolioaufbau nach Hauptanlageklassen. Wir minimieren den Unterschied der Volatilität zwischen einer 10-jährigen, zu Swapsätzen diskontierten Verbindlichkeit und einem Anleiheportfolio unter der Bedingung einer Zielrendite wie in der ersten Zeile der Tabelle. Ein Unternehmen mit wenig verfügbarem Kapital wird hauptsächlich in Staatsanleihen investieren. Wenn die Kapitalmargen weiter sind, können Investments in Anleihen mit niedrigeren Ratings in das Portfolio einbezogen werden. Anleihen mit Ratings unter B schließen wir aufgrund des hohen Ausfallrisikos von vornherein aus.

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Die hier verwendete erwartete Rendite basiert auf die die ICE BoA Indizes für das jeweilige Segment, korrigiert um den erwarteten Verlust im Zusammenhang mit dem Ausfallrisiko, d.h. 0 % bei  Staatsanleihen, rund 0,1 % bei  Unternehmensanleihen mit einem Rating von BBB oder höher sowie 2,2 % bei niedrigeren Ratings.

 

Die Wertentwicklung der Vergangenheit ist keine Garantie für zukünftige Ergebnisse.

Bei den dargestellten Szenarien handelt es sich um eine Schätzung der künftigen Performance auf der Grundlage von Daten zu diesem Investment aus der Vergangenheit und Annahmen zu Wertschwankungen und/oder zur aktuellen Marktlage. Sie sind daher kein exakter Indikator. Die Ergebnisse, die Sie erzielen, werden je nach der Marktentwicklung und der Laufzeit des Investments oder Produkts variieren.

 

Die beiden vorgenannten Punkte implizieren auch ein Minimum an umsichtigem Management im Hinblick auf das Ausfallrisiko in den Portfolios. Wirtschaftliche und politische Unsicherheiten sprechen auch für ein aktives Management, zumindest für die risikoreichsten Segmente des Portfolios.

Obwohl wir  unsere Meinung gebildet haben, bleibt unklar, wann die Inflation zum EZB-Ziel zurückkehren  und welches Zinsniveau vorherrschen wird, wenn sich die Inflation dem Ziel annähert. Wir sind jedoch der festen Überzeugung, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für viele ist, ihre Investmentstrategie zu überprüfen.

 

[1] Der Präsident des Reichsbank-Direktoriums an den Gouverneur der Federal Reserve Bank of New York, Herrn Benjamin Strong, den 31. Mai 1922, betreffend 1135.1 Korrespondenz mit Deutschland -- Reichsbank, Präsident, Rudolph Havenstein (1921-1923) (stlouisfed.org)
[2] Offizielle Korrespondenz von Mr. Snyder an den Gouverneur der US-Notenbank Strong, 10. Juli 1922, betreffend 1135.1 Correspondence mit Deutschland -- Reichsbank, Präsident, Rudolph Havenstein (1921-1923) (stlouisfed.org)
[3] Deutsche Staatsanleihen: J.P. Morgan GBI Deutschland Ungesichert EUR, Staatsanleihen Eurozone: J.P. Morgan GBI EMU Unhedged EUR, Unternehmensanleihen Investment Grade Euro: IBOXX Euro Corporates Overall Total Return Index, Unternehmensanleihen High Yield Euro: ICE BofA Euro High Yield Index, Aktien der Eurozone: MSCI EMU Net Return Index, Globale Aktien in Euro: MSCI World AC Net Return Index EUR
[4] Die Rendite eines Index für Unternehmensanleihen der Eurozone, des ICE BofA Euro Corporate Index, wird in drei Komponenten unterteilt: Zinssätze, Swap-Spreads und Credit-Spreads. Die Zinskomponente entspricht der Rendite von Staatsanleihen und ist in der Grafik nicht dargestellt. Der Swapspread ist die Differenz zwischen der Swaprendite und der Staatsrendite. Der Credit Spread ist die Differenz zwischen der Rendite einer Kreditanleihe und der Swap-Rendite.
[5] download-naturgefahrenreport-2022-data.pdf (gdv.de)

  • Fabrice Sauzeau
    Deputy Head of Pension and Insurance Relations

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