Energiewende-Turbulenzen: Strukturell oder zyklisch?

Steigende Zinsen, Änderungen der Regulierung, schwankende und schnell wieder sinkende Inputkosten – noch nie wurde so viel Geld in saubere Energien investiert und noch nie waren die Herausforderungen so groß wie 2023.

Während die Märkte offenbar beabsichtigen, den gesamten Sektor zusammen mit dem inflationären Badewasser auszuschütten, ist es Zeit, die strukturellen Veränderungen von den Problemen zu trennen, die sich bei der Hochskalierung einer ganzen Branche zwangsläufig ergeben – und die auch wieder nachlassen dürften.

 

Die Wende geht weiter.

Trotz Kriegen, Versorgungsstörungen, Inflation und geopolitischer Unsicherheit steht saubere Energie für die meisten Regierungen nach wie vor ganz oben auf der Agenda – man denke nur an die Zahl der Teilnehmer an der jüngsten UN-Klimakonferenz COP 28 in Dubai. Der Klimawandel ist nicht nur nach wie vor die große globale Herausforderung dieses Jahrhunderts. Die Notwendigkeit für entschlossene Klimaschutzmaßnahmen wird nur noch weiter an Bedeutung gewinnen, da sich das Zeitfenster zum Handeln schließt.

Wir haben (noch) keine Verlangsamung beim Tempo der Energiewende beobachtet. Im Gegenteil: Die Internationale Energieagentur IEA prognostiziert ein weiteres Rekordjahr. Schätzungen zufolge werden die neu hinzukommenden erneuerbaren Kapazitäten im Jahr 2023 auf 440 GW beschleunigen, eine Steigerung um über 100 GW gegenüber den im Jahr 2022 hinzugekommenen Kapazitäten. Dies trotz der steigenden Kosten in den meisten Bereichen. Die Elektrifizierung von Personenkraftwagen vollzieht sich in einem Tempo, das laut der IEA nahe an dem liegt, das für ihr außerordentlich ehrgeiziges Netto-Null Szenario erforderlich ist. Jedes fünfte im Jahr 2022 verkaufte Auto war ein Elektroauto, im Vergleich zu jedem fünfundzwanzigsten nur zwei Jahre zuvor[1].

Von den Finanzmärkten erhielten saubere Technologien und insbesondere erneuerbare Energien im Jahr 2023 jedoch wenig Unterstützung. Nach mehreren Jahren mit einer guten Performance, die von einer starken regulatorischen Unterstützung getragen wurde, leidet der Sektor jetzt unter gesamtwirtschaftlichen, geopolitischen und sektorspezifischen Gegenwinden.

Wird der saubere Energiebereich das im Pariser Abkommen anvisierte Ziel erreichen, die erneuerbaren Energiekapazitäten bis 2030 zu verdreifachen? Einfach ausgedrückt, wird dies von der Fähigkeit der Regierungen abhängen, in einem veränderlichen wirtschaftlichen Umfeld langfristige Anreize für Investitionen in erneuerbare Energien zu geben.

 

Rentabilität? Es ist kompliziert.

Nach mehreren Jahren der Verbesserung verschlechterte sich die Wirtschaftlichkeit erneuerbarer Energien im Großteil des Jahres 2023. Die Stromgestehungskosten[2] für den breit definierten sauberen Energiesektor stiegen von 2020 bis 2023 um rund 15% bis 25%[3], obwohl die Kosten in einigen Segmenten sogar gesunken sind. Der Bau neuer fossiler Kraftwerke ist nach wie vor eine erheblich teurere Alternative. Zudem litten diese Kraftwerke unter Inputkostendruck aufgrund der steigenden Gas- und Kohlepreise im Jahr 2022.

Die Rentabilität des erneuerbaren Energiesektors ist heterogen, sowohl nach Technologien als auch nach Regionen. Er wird stärker von der Politik als von der geografischen Lage beeinflusst. Höhere Stromgestehungskosten bedeuten jedoch nicht immer eine geringere Rentabilität, da die höheren Strompreise der installierten Basis bestehender erneuerbarer Energieerzeugungsanlagen zugutekamen.[4]

Die steigenden Zinssätze sind definitiv eine langfristige Veränderung. Doch trotz des steilen Anstiegs der Zinssätze und der hohen Kapitalinvestitionen in dieser Branche waren die Kapitalkosten nur ein Teil der Erklärung für die Verschlechterung der Wirtschaftlichkeit erneuerbarer Energien im Jahr 2023. Die Stromgestehungskosten hatten sich bereits vor den Zinserhöhungen verschlechtert. Grund dafür waren die steigenden Inputkosten. (Eine Grafik der Stahlpreise verdeutlicht dies.) Unabhängig davon, ob Sie die allgemeine Inflation als vorübergehendes Phänomen oder einen langfristigen Trend ansehen, sind die dramatischen Versorgungsstörungen und Engpässe der letzten zwei Jahre hoffentlich nicht die neue Normalität für den Anstieg der Inputkosten. Nach der enormen Belastung von 2022 und Anfang 2023 beginnen die Inputkosten im vierten Quartal 2023 bereits zurückzugehen.

 

 

Erneuerbare Energien bleiben konkurrenzfähig. Aber nicht alle sauberen Technologien sind gleich.

Trotz des Anstiegs der Zinssätze und der heftigen Schwankungen der Inputkosten in den letzten Quartalen sind erneuerbare Energien gemessen an den Stromgestehungskosten nach wie vor sehr konkurrenzfähig. Wir erwarten, dass sich dies mindestens bis 2030 fortsetzt – sowohl aufgrund von technologischen Verbesserungen als auch dank unterstützender Gesetze wie dem Inflation Reduction Act in den USA.

Die verschiedenen Technologien – und viele Teile der Wertschöpfungskette für erneuerbare Energien – zeigten jedoch eine unterschiedliche Widerstandskraft gegenüber Veränderungen der Wirtschaftslage. Die technologische Positionierung, der Grad der Integration und die Größe sind entscheidende Faktoren.

Man muss hinter die Durchschnitte blicken. Wie bei jeder ausgereiften Industrie gibt es Spitzenreiter und Schlusslichter. Einige saubere Energielösungen kommen aufgrund von technologischen Fortschritten und sinkenden Kosten etwas schneller in Fahrt als andere, zum Beispiel Solarenergie (Photovoltaik) und Elektrofahrzeuge. Zu den Schwachpunkten zählen die unzureichenden Investitionen in Stromnetze und Offshore-Windkraftprojekte. Ohne neu konzipierte Netze geht ein Teil der erneuerbaren Wind- und Solarenergie verloren, da sie die Endnutzer nicht erreichen kann. Zudem darf man nicht vergessen, dass die Hälfte des Wachstums aus China stammt. Daher heißt es, hinter die Gesamtwachstumszahlen zu blicken.

Insgesamt ist das Wachstumspotenzial gut. Eine Verdoppelung der Effizienz und eine Verdreifachung erneuerbarer Energien sind unbedingte Voraussetzungen, um das 1,5°C-Szenario des Pariser Abkommens zu erreichen. Die Bewertungsdebatte und die Fragen kreisen zum großen Teil um die Auftragspipeline und darum, welche Technologien dominieren werden. Doch wie bei jeder neuen Technologie – von Eisenbahnen bis zu Dotcom-Unternehmen – können hohe Wachstumsaussichten zu Überinvestitionen und Überkapazitäten führen. Die Anleger sollten diese Technologien und Geschäftsmodelle mit tiefgreifenden traditionellen Methoden analysieren und das Augenmerk vor allem auf fortgesetzte Wettbewerbsvorteile, die Rentabilität, ein vorhersehbares regulatorisches Umfeld und die Finanzierungsbedingungen richten. Projekte haben zumeist frühzeitige Cashflows, doch einige Unternehmen und Aktien in dem Sektor benötigen fast ständig Kapitalerhöhungen, um das in den Bewertungen vorweggenommene erwartete Wachstum beizubehalten. Wenn die Anleger dem Sektor den Rücken kehren, wird dies zum Problem.

 

Regulierung bleibt der wichtigste langfristige Trend.

Heute decken die meisten erneuerbaren Energieprojekte ihre Kapitalkosten mehr als ab.[5] Doch aufgrund der vielen beteiligten Faktoren kann sich das Bild verändern wie ein Kaleidoskop. Wenn Investitionen des Privatsektors Erfolg haben sollen, muss die Regulierung vorhersehbar sein.

In Europa und den USA finden 2024 Parlaments- bzw. Präsidentschaftswahlen statt, bei denen prominente Kandidaten fossile Brennstoffe unterstützen. Außerdem könnte Europa eine weniger klimaorientierte Haltung einnehmen. Die Geopolitik wird ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen. Wie werden Europa und die USA auf die Vorrangstellung Chinas in den Lieferketten für saubere Technologien reagieren? Wie wird sich die im IRA enthaltene Vorschrift zur Beschaffung in den USA auf den Markt auswirken? Wird Europa den „grünen Protektionismus“ verstärken?

Das Ziel der Behörden ist die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft und die Sicherstellung der Energieversorgungssicherheit zu bezahlbaren Kosten für die Bürger. Dieses „Energie-Trilemma“ ist umso beunruhigender, wenn die Energiepreise hoch sind, was an den jüngsten Zweifeln von Regierungen aufgrund von erfolglosen Auktionen für erneuerbare Energieprojekte abzulesen war. Die Komplexität wird weiter zunehmen, wenn der Anteil erneuerbarer Energien wächst und es möglicherweise zu Konflikten mit der gegenwärtigen zentralisierten, auf „rein wirtschaftlichen Kriterien basierenden“ Funktionsweise der europäischen Strommärkte kommt.  

Erneuerbare Energien sind ein sich beschleunigender langfristiger Trend. Das Tempo der Beschleunigung sowie die Widerstandsfähigkeit und Rentabilität der erneuerbaren Energien hängen von der Steuerung ab. Regierungen müssen sich entschlossen für die Energiewende einsetzen. Sie müssen sich gleichzeitig an das schwierigere gesamtwirtschaftliche Umfeld und die zunehmende Dringlichkeit des Klimaproblems anpassen. Die Geopolitik dürfte zu einem wichtigen neuen Faktor in diesem strukturellen „Energie-Trilemma“ werden, da saubere Technologie zu einer neuen Arena für Handelsstrategien und Machtdemonstrationen wird.

 

 

 

 

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[1] International Energy Agency, World Energy Outlook 2023, Oktober 2023

[2] Als Vergleichsbasis für Stromerzeugungstechnologien betrachten wir die Stromgestehungskosten (Levelized Cost of Electricity, LCOE): Bei erneuerbaren Energien fallen natürlich im Vorfeld Kapitalkosten an (und Wartungskosten in unterschiedlicher Höhe), während bei Energie aus fossilen Brennstoffen sowohl im Vorfeld Kapital investiert werden muss als auch laufende jährliche Brennstoffkosten anfallen.

[3] International Energy Agency, Renewable Energy Market Update, Juni 2023

[4] Der jüngste Kostenvergleich zwischen erneuerbarer und thermischer Stromerzeugung ist für langfristige Prognosen praktisch nutzlos, da die Energiekrise im Jahr 2022 in Europa dazu führte, dass die Kosten für die thermische Stromerzeugung 2022 in die Höhe schossen und 2023 wieder fielen. Die Kosten für die thermische Erzeugung liegen jedoch nach wie vor über den langfristigen Durchschnitten.

[5] Ein Beispiel: Laut Bernstein deckt der prognostizierte interne Zinsfuß (IRR) aller landgestützten Windkraft- und Solarenergieprojekte, auf der Basis der jüngsten Auktionspreise, ihre gewichteten Durchschnittskapitalkosten (WACC) spielend ab. Eine Ausnahme bildete die spanische Onshore-Windauktion im November 2022, als sich die Stahlpreise am Höhepunkt befanden.

 

Die IEA beurteilt das Wachstum erneuerbarer Energien zuversichtlich, unter anderem aufgrund der bedeutenden bestehenden Fertigungskapazitäten für Solaranlagen. Zum Beispiel wird vermutet, dass einige chinesische Solaranlagenhersteller nur mit 25% ihrer Kapazität produzieren.

  • Alix Chosson
    Lead ESG Analyst – Environmental Research & Investments
  • Nicolas Rutsaert, CFA
    Senior Equity Analyst – Cyclicals
  • Marouane Bouchriha
    Senior Fund Manager
  • Nicolas Cleris
    Nicolas Cleris
    Senior Credit Analyst

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