Sollten wir uns Sorgen um die Inflation machen?

Der aktuelle Inflationstrend ist einzigartig für die Wirtschaft nach COVID: Die jüngste Inflationsrunde ist zum einen das Ergebnis von Unterbrechungen in der Lieferkette und zum andern auf die aufgestaute Nachfrage der Verbraucher zurückzuführen, die endlich Waren und Dienstleistungen nutzen möchten, die ihnen während der Pandemie vorenthalten wurden. Dieser Trend dürfte sich als vorübergehend erweisen. Die Fragen, die sich die Zentralbanken jedoch ständig stellen, sind die, was mit den Löhnen geschehen wird… und wann, und in welchem Umfang sie restriktive geldpolitische Maßnahmen ergreifen müssen?

Die globale Erholung der Industrie, Unterbrechungen der Lieferkette und Basiseffekte haben die Inflation angeheizt

In den letzten zwölf Monaten erreichte die Inflation ohne Nahrungsmittel und Energie in den USA 3,8 %, das höchste Niveau seit fast dreißig Jahren. Dieses besonders schnelle Tempo der Preissteigerungen dürfte keine Überraschung sein. Die Pandemie kann als vorübergehender Schock angesehen werden, der die Wirtschaftsaktivität unterbrach, aber die Nachfrage weitgehend unverändert ließ (dank der staatlichen Unterstützung). In der Regel erholt sich die Nachfrage schnell, sobald solche Katastrophen vorbei sind. Doch obwohl die Pandemie die Produktionskapazitäten insgesamt weitgehend unverändert ließ, geriet das Gefüge der Weltwirtschaft durcheinander und die Lieferketten wurden ernsthaft gestört: Die Versandkosten sind in die Höhe geschossen, die Rohstoffpreise stiegen kräftig ... und beim weltweiten Mangel an Halbleitern gibt es keine Anzeichen, dass dieser zurückgeht (noch wird damit vor dem Q1/2022 gerechnet)! Dies hat dazu geführt, dass die Funktionsweise der Lieferketten in ihrer vor der Pandemie bestehenden Form stark beeinträchtigt wurde, was zu einer erheblichen Verlängerung der Lieferzeiten führte. Diese Störung ist vorübergehender Natur, wird aber einige Zeit dauern, bis sie behoben ist1.

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Der Einbruch der weltweiten Industrieproduktion war zwar genauso stark wie während der globalen Finanzkrise, aber die Erholung fiel deutlich stärker aus.

Störungen in den Lieferketten haben zu einem deutlichen Anstieg der Durchlaufzeiten bei den Lieferanten geführt.

Die jüngsten Entwicklungen bei den Verbraucherpreisen haben etwas Licht in die Dynamik gebracht, die hierbei im Gange ist. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Inflation weitgehend durch Dienstleistungen getrieben, während der globale Wettbewerb und die Globalisierung der Lieferketten die Inflation bei Waren bremste. Seit Beginn der Pandemie ist die Inflation bei Waren jedoch deutlich gestiegen, während sie bei Dienstleistungen verhalten war. Dies liegt daran, dass die Pandemie für eine vorübergehende Verzerrung der Nachfragestruktur zugunsten bestimmter Güter (Sportartikel, Möbel, Gebrauchtwagen usw.) gesorgt hat. Gepaart mit den Unterbrechungen in der Lieferkette führte dies zu einem starken Anstieg der Preise dieser Güter. Indirekt sind auch viele Dienstleistungen betroffen. Zum Beispiel sind die Autovermietungspreise seit Februar 2020 um mehr als 60 Prozent gestiegen: Während der Pandemie waren die Vermieter gezwungen, einen Teil ihrer Flotte zu verkaufen, um zu überleben.Nun kämpfen sie damit, diese wieder aufzustocken, um die Nachfrage zu befriedigen. Insgesamt war die Inflation bei Dienstleistungen jedoch verhalten, da sich die Pandemie auf ihren Konsum besonders negativ auswirkte. Die Preise für „nicht lebensnotwendige“ Dienstleistungen (Luftfahrt, Hotels usw.) sind während der Pandemie stark gefallen. Mit der Wiedereröffnung der Wirtschaft beginnen diese Preise jedoch allmählich nachzuziehen und werden dies wahrscheinlich auch weiterhin tun. Es gibt also gute Gründe, dass die Inflation noch weitere Monate unter Druck bleibt. Auch wenn der Inflationsdruck möglicherweise länger anhält als von manchen vermutet, kann dieser Aufschwung durchaus als vorübergehend angesehen werden.

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Im Euroraum spielt zwar eine ähnliche Dynamik eine Rolle, doch der Inflationsdruck war bisher wesentlich geringer, da die Erholung dieser Region derjenigen der USA hinterherhinkt und die Inflation zunächst verhaltener war: Ende Mai lag die Kerninflation in den USA bei fast 4 %, während sie in der Eurozone immer noch unter 1% lag. Zugegebenermaßen hat sich die Inflation in einigen Ländern beschleunigt, welche die Krise besser gemeistert haben als andere. Doch selbst in diesen Ländern war der Anstieg begrenzt, während die Inflation in den am härtesten getroffenen Ländern Südeuropas weiterhin wesentlich niedriger ist als vor der Krise.

Überschüssige Ersparnisse, die sich angehäuft haben, könnten die Nachfrage in den USA leicht über dem Trend liegen lassen

Über diese vorübergehenden Effekte hinaus ist die Stärke der Erholung jedoch beispiellos und der rasante Nachfrageanstieg schürt die Angst vor einer nachhaltigen Beschleunigung der Inflation. Dies gilt insbesondere für die USA, wo das Einkommen der privaten Haushalte nicht nur erhalten wurde (wie im Euroraum), sondern durch fiskalpolitische Unterstützung erheblich erhöht wurde. Infolgedessen haben die Haushalte beträchtliche Ersparnisse angehäuft.

Was wäre, wenn morgen das während der Pandemie generierte Potenzial zusätzlicher Ersparnisse in vollem Umfang ausgegeben werden würde? Festzuhalten ist, dass ein Großteil davon wahrscheinlich bereits von Haushalten mit niedrigem Einkommen genutzt wurde, um Schulden, aber auch Mietrückstände zu begleichen. Einige dieser zusätzlichen Ersparnisse (mehr als 1 Billion US-Dollar) liegen jedoch in den Händen der wohlhabendsten Haushalte, die seit mehr als einem Jahr nicht mehr so viele „nicht-essentielle“ Dienstleistungen wie früher in Anspruch nehmen konnten. Diese Haushalte könnten das jetzt nachholen wollen. Eine einfache Berechnung macht jedoch deutlich, dass das schwierig wäre. Wenn die Haushalte beschließen würden, 1 Billion US-Dollar für Dienstleistungen auszugeben, die ihnen während der Pandemie vorenthalten wurden, würde der Gesamtkonsum dieser Dienstleistungen den vor der Krise bestehenden Trend um über 30 % übertreffen, was unplausibel erscheint. Es ist wahrscheinlicher, dass nicht alle diese Ersparnisse ausgegeben werden (und weiterhin hauptsächlich den Erwerb von finanziellen Vermögenswerten oder Immobilien anheizen): In unserem Hauptszenario gehen wir davon aus, dass rund ein Drittel der 1 Billion USD an zusätzlichen Ersparnissen, die durch den geringeren Konsum generiert wurden, ausgegeben werden.

Im Euroraum wurden während der Pandemie ebenfalls einige „Extra-Ersparnisse" angehäuft, jedoch in geringerem Umfang. Infolgedessen ist der Nachfrageüberhang in der Eurozone viel weniger ein Grund zur Sorge, wo wir erwarten, dass die Erholung in einigen Kernländer frühestens Ende 2021 beendet sein wird, in anderen aber nicht vor Ende 2022.

Alles in allem könnte die Wirtschaftsaktivität in den USA über dem Trend von vor der Krise liegen, da die Haushalte einen Teil der während der Pandemie angehäuften zusätzlichen Ersparnisse ausgeben. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios erscheint in Europa aber weniger wahrscheinlich. Darüber hinaus geht es am Kern vorbei, sich nur auf den kurzfristigen Inflationsdruck zu konzentrieren: Um den Inflationsdruck aufrecht zu erhalten, müssen sich auch die Löhne und die Produktivität entwickeln.

Die über dem Trend liegende Nachfrage bedeutet nicht zwangsläufig eine über dem Trend liegende Beschäftigung

In den USA war die Lohnentwicklung Ende Mai in einigen Sektoren bereits spektakulär: Aufs Jahr gerechnet stiegen die Stundenlöhne im Freizeitdienstleistungssektor seit März um mehr als 15 % und im Einzelhandels-  und Transportsektor um fast 10 %. Dies ist jedoch zu einem Großteil der Tatsache geschuldet, dass bei einer Wiedereröffnung der Wirtschaft der Personalbedarf in einigen Sektoren sehr hoch sein wird … während einige Menschen eher zurückhaltend sind, wenn es um solche personennahe - und allgemein schlecht bezahlten - Jobs geht (nicht vollständige Schulöffnungen, Sorge um das Virus, großzügige Arbeitslosenunterstützung …). Dies sind meistens vorübergehende Ungleichgewichte, die allmählich verschwinden werden, da die Impfung an Fahrt gewinnt, die Schulen wieder öffnen und die großzügigen Arbeitslosenunterstützungen, die während der Pandemie eingeführt wurden, ein Ende nehmen (25 Staaten haben bereits beschlossen, diese Programme zu beenden, während der Rest bald mit Plänen für Anfang September folgen wird). Diese mikroökonomischen Spannungen sollten den Blick auf des große Ganze nicht verschwimmen lassen: Die Beschäftigung liegt immer noch um 7 Millionen unter ihrem Niveau vom Februar 2020. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, auf dem Arbeitsmarkt anhaltende und weitgehende Spannungen zu erwarten.

Dies ist umso unwahrscheinlicher,als sich die Produktivität in letzter Zeit beschleunigt hat. Dieser Anstieg des Produktivitätswachstums ist zum großen Teil zyklisch, doch er begann schon vor der Pandemie, da die Unternehmen ihre Investitionen nicht nur in Ausstattung, sondern auch in immaterielle Güter wie F&E deutlich verstärkt hatten. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Pandemie durch die Beschleunigung bereits bestehender Automatisierungs- und vor allem Digitalisierungstrends (Arbeit im Homeoffice, E-Commerce, …) in den nächsten Jahren zu einem schnelleren Produktivitätswachstum beitragen wird. Für die Inflation ist dieses Wachstum in zweierlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung: Eine bestimmte Produktionsleistung könnte mit weniger Arbeitnehmern erreicht werden, was die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt und damit auch bei den Löhnen dämpfen würde. Dies würde drüber hinaus auch den Unternehmen helfen, ihre Margen zu erhalten, da ihre Lohnstückkosten sinken würden.

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Im Euroraum waren die Kurzarbeitsprogramme entscheidend, um den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu begrenzen. Vor diesem Hintergrund stellt die Arbeitslosenquote ein irreführendes Maß für die Flaute auf dem Arbeitsmarkt dar. Die Beschäftigungsraten sind in dieser Hinsicht viel zuverlässiger. In Südeuropa waren jüngere Altersgruppen besonders von der Pandemie betroffen. Schon vor der Pandemie waren die Beschäftigungsquoten für Männer im Haupterwerbsalter weit von ihrem Niveau von Mitte der neunziger Jahre entfernt. Die Pandemie hat sie dann erneut nach unten gedrückt, insbesondere in Spanien und Italien. Angesichts der deutlichen Flaute am Arbeitsmarkt gibt es in der Eurozone wenig Anlass zu unter Druck stehenden Löhnen.

Letztendlich liegt die Inflation in den Händen der Zentralbanken

Die Änderung des geldpolitischen Handlungsrahmens der US-Notenbank könnte Bedenken hinsichtlich ihrer Toleranz von Inflation aufkommen lassen. Tatsächlich wird die Fed im Rahmen ihres neuen Modells flexibler durchschnittlicher Inflationsziele vorübergehend eine höhere Inflation als Ausgleich dafür akzeptieren, dass sie ihr Ziel vorher nicht erreicht hat. Der Übergang zu einem inklusiven Beschäftigungsziel hätte ebenfalls die Bedenken verstärken können. Doch weder das eine noch das andere (und auch nicht beides zusammengenommen) bedeutet, dass die Fed sich zurücklehnen und zusehen wird, wie die Inflation anzieht, ohne Maßnahmen zu ergreifen. Selbstverständlich würden diese Maßnahmen zwar dazu beitragen, die Inflation in Schach zu halten, doch wäre das nicht ohne Risiken für das Wachstum.

Die Eurozone steht zum Teil vor denselben Herausforderungen wie die USA, aber in einer viel weniger akuten Form. Vor der Pandemie war die Region mit einer zu niedrigen Inflation konfrontiert und deren Erholung blieb hinter derjenigen der USA zurück. Die Sorge um die bevorstehende Überprüfung der EZB ihrer Geldpolitik, die zu einer tiefgreifenden Änderung ihrer Inflationspolitik führen könnte, ist ebenfalls unangebracht. Welche Änderungen auch beschlossen werden, sie werden an der Verpflichtung der EZB, die Inflation niedrig zu halten, nicht rütteln.

 


1Am 8. Juni kündigte das Weiße Haus die Bildung einer Task-Force zur Bekämpfung von Versorgungsengpässen und der daraus resultierenden Inflation an.

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