Der zweite Takt des Walzers

Trotz einer deutlichen Erholung seit Oktober verzeichnen die europäischen Aktienmärkte, die seit Beginn der Krise in der Ukraine von starken Abflüssen gebeutelt werden, im Jahr 2022 eine Korrektur (-9,5%). Zwar beendeten europäische Aktien das Jahr mit einer relativen Outperformance gegenüber den USA (-13,4 %) und den Schwellenländern (-15,1 %)[1], doch nichtsdestotrotz gab das Jahr Anlass zur Sorge, denn die Anleger machen sich nun Gedanken über ihre Positionierung für 2023.

Gleichwohl ist die Marktstimmung zu Beginn dieses Jahres optimistischer als zu Beginn des Herbstes 2022. Auch wenn das Szenario eines Konjunkturabschwungs nach wie vor am wahrscheinlichsten ist, scheinen die Anleger bereits einen Silberstreif am Horizont zu sehen.

Abbildung 1 :Performance 2022 der Indizes MSCI Europe, S&P 500 und MSCI Emerging Markets, Net Return, Basis 100, in EUR

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Bilanz zum 1. Walzertakt: Zentralbanken im Rampenlicht

 Im Nachgang zu unserem Artikel vom Juli 2022, in dem wir unsere Überzeugung äußerten, dass sich europäische Aktien in einem Walzer mit drei Takten entwickeln würden, können wir nun Bilanz zu dieser ersten Phase ziehen: „die Value-Phase“. Zur Erinnerung: In dieser 1. Phase rechneten wir mit einer Erhöhung der Zentralbankzinsen und einer Normalisierung der langfristigen Zinsen im Einklang mit den langfristigen Inflationserwartungen. Dieses „Rerating“ der langfristigen Zinsen wirkte sich ungünstig auf die Bewertungen der Unternehmen aus, und zwar in erster Linie auf die der sogenannten Qualitäts-/Wachstumswerte, was dem Rückgang des Abzinsungssatzes des zukünftigen freien Cashflows [2] zuzuschreiben war. Somit verzeichneten Value-Aktien eine Outperformance.

Abbildung 2 :Relative Performance des MSCI Europe GROWTH Net Return / MSCI Europe VALUE Net Return, Basis 100, über 5 Jahre.

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  • Growth-Aktien zeichnen sich durch ein höheres Gewinnwachstum aus und sind in der Regel höher bewertet. Der MSCI© Europe Growth Index, der 50 % der Marktkapitalisierung von MSCI© Europe darstellt, wird durch eine Faktorenanalyse des langfristigen und kurzfristigen Wachstums des Gewinns je Aktie (EPS), des aktuellen Wachstums und des langfristigen historischen Wachstums des EPS und des Umsatzes bestimmt.
  • Als „Value“ bezeichnete Aktien sind im Verhältnis zu ihren Gewinnen oder Vermögenswerten niedriger bewertet. Sie werden für den MSCI© Europe Value Index anhand eines Faktorenmodells des Kurs-Buchwert-Verhältnisses, des künftigen KGV und der Dividendenrendite definiert.

 

* KGV: Börsenkennzahl, die dem Verhältnis zwischen dem Börsenwert eines Unternehmens und seinen Gewinnen entspricht.

 

Inflation: Abschwächung in Sicht?

Unserer Einschätzung nach liegt der Höhepunkt der Inflation größtenteils hinter uns – jedenfalls in den USA, wo bereits gewisse Rückgänge zu beobachten sind. Europa scheint bereits den gleichen Weg einzuschlagen. Somit ist im kommenden Jahr auf beiden Seiten des Atlantiks mit einem immer deutlicheren Inflationsrückgang zu rechnen. Dabei wäre es jedoch alles andere als klug, ein Deflationsrisiko bis 2024 gänzlich auszuschließen, zumindest in den USA und in bestimmten Segmenten.

Zentralbanken: Schluss mit Zinserhöhungen?

Nachdem unser Hauptszenario erheblicher Zinserhöhungen durch die Zentralbanken eingetreten ist, gehen wir nun davon aus, dass die Leitzinsen im ersten Quartal einen Höchststand erreichen und wahrscheinlich bis zum Jahresende auf diesem Niveau bleiben werden. Gleichzeitig beobachten wir, dass die verschiedenen Initiativen - in erster Linie die Reduzierung ihrer Bilanzsumme, aber auch ihre Zinserhöhungen - die wirtschaftliche Abschwächung tatsächlich angeheizt haben. In den USA schwächt sich die Konjunktur bereits deutlich ab und diese Entwicklung dürfte sich fortsetzen. Denn zum einen schrumpft der Markt für Wohnimmobilien aufgrund des starken Anstiegs der Hypothekenzinsen stark und zum anderen wirkt sich dies erheblich auf kleine und mittlere Unternehmen aus, die mit ihren sehr kurzfristigen Finanzierungen durch die hohen Finanzierungskosten gezwungen sein werden, Mitarbeiter zu entlassen. Da sich diese kleinen Unternehmen hauptsächlich durch die Aufnahme von Fremdkapital finanzieren und einen höheren Finanzierungsbedarf haben als größere Unternehmen, werden sie bei den Kosten und damit auch beim Personal den Rotstift ansetzen müssen. Demzufolge dürften die Arbeitslosenzahlen in den USA in den nächsten Quartalen schneller steigen. Dies könnte möglicherweise eine stärkere und länger anhaltende Rezession zur Folge haben als erwartet. Von dieser starken Abschwächung der US-Konjunktur wird im Nachgang unweigerlich auch Europa betroffen sein.

 

Die Stunde der 2. Phase hat geschlagen: Kurs auf defensive Qualität

Vor dem Hintergrund der nicht neutralen Auswirkungen dieses 1. Walzertakts auf die US-amerikanische, aber auch auf die europäische Wirtschaft dürften – zusätzlich zu den aktuellen Margenproblemen – weiterhin ernsthafte Ertragsrisiken zutage treten. Bei manchen Unternehmen werden die Gewinne nachvollziehbarerweise sinken, andere werden standhalten. Die großen Gewinner aber werden diejenigen sein, denen es gelingt, von den an Dynamik gewinnenden Nischen zu profitieren.

In dieser 2. Phase ist die Ausrichtung auf Qualitätsunternehmen (solide Bilanz und Rentabilität, starke Wertschöpfung mit Generierung von freiem Cashflow2, Stabilität der Erträge) eine attraktive Strategie, um Enttäuschungen bei den Gewinnen im Zusammenhang mit dem Konjunkturabschwung zu umgehen. Wir bevorzugen somit defensive Werte, unabhängig davon, ob die Unternehmen im Inland tätig sind oder internationale Reichweite haben.

Auf Ebene der Sektoren erfüllen Basiskonsumgüter und das Gesundheitswesen unserer Ansicht nach diese Bedingungen. Eine sorgfältige Titelauswahl ist jedoch nach wie vor entscheidend, um diejenigen Unternehmen zu identifizieren, die den Markt positiv überraschen können.

Außerdem sollten Unternehmen mit hoher Innovationskraft in der Lage sein, diesen Anforderungen nach Prognosesicherheit und strukturellem Wachstum gerecht zu werden, indem sie die Konkurrenz noch weiter hinter sich lassen.

 
Ein großer Zahl dieser Unternehmen ist in Nischen tätig, insbesondere in den Sektoren Energiewende, neue Gesundheitstechnologien, Digitalisierung oder Automatisierung der Wirtschaft – alles Sektoren, die wir in unserer Strategie, die in innovative Titel investiert, bevorzugen.

Dieser 2. Walzertakt dürfte auch mit einer Entspannung bei den langfristigen Zinsen in den USA einhergehen, die mit der Konjunkturabschwächung in Einklang steht. Tatsächlich dürften die langfristigen Inflationserwartungen in den nächsten 12 bis 18 Monaten sinken – und Europa dürfte diesem Beispiel folgen.

Und nicht zuletzt sollte man die schrittweise Wiedereröffnung Chinas im Auge behalten, die sich auf die Rohstoffpreise, insbesondere für LNG (Flüssigerdgas), und damit auf die europäischen Finanzen auswirken könnte. Einige zyklische Konsum- und Industriewerte, die stark in China engagiert sind, könnten dadurch sehr kurzfristig Unterstützung erhalten. Das ändert jedoch nichts an den Problemen der Immobilienkrise und der hohen Verschuldung, mit denen China in den kommenden Jahren weiter zu kämpfen haben wird und die sich unmittelbar auf das Wachstumspotenzial des Landes auswirken werden.

Geduld für die 3. Phase : der berühmte „Pivot“ der Fed

Um abzuschätzen, wann der 3. Walzertakt beginnt, der vor allem für Zykliker und Small Caps, aber auch für die Märkte im Allgemeinen grünes Licht bedeutet, müssen wir uns zunächst mit dem berühmten „Pivot“ der US-Notenbank befassen.

Zur Erinnerung: Wie wir in unserem oben erwähnten Artikel dargelegt haben, ist historisch gesehen festzustellen, dass die Marktentwicklung und insbesondere die Kurse zyklischer Werte die neue Phase eines Konjunkturzyklus 6 bis 12 Monate vorwegnehmen. In gleicher Manier wie die Geldpolitik der Fed den Konjunkturabschwung und die Baisse an den Märkten ausgelöst hat, wird sie auch der Auslöser für den nächsten wirtschaftlichen Aufschwung sein.

Die Flexibilität bei der Liquiditätszufuhr und die Änderung der Haltung der US-Notenbank - der „Pivot“, also der Wendepunkt, ab dem die Fed die Zinsen nicht mehr erhöhen wird – wird einen neuen Zyklus einleiten, den 3. Walzertakt. Damit die US-Notenbank ihren Kurs so grundlegend ändert, braucht es nach Aussage der Fed zwei wesentliche Voraussetzungen: erstens einen deutlichen Rückgang der Kerninflation [3] auf 3 oder sogar 2 % und zweitens einen flexiblen Arbeitsmarkt und damit ein viel größeres Arbeitskräftereservoir. Dies dürfte unweigerlich mit einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den USA um +1 % oder sogar +2% einhergehen.

Da all diese Faktoren zusammenkommen müssen, rechnen wir nicht mit einem „Pivot“ der Fed vor der zweiten Jahreshälfte 2023 oder sogar dem Jahresende. In der Zwischenzeit besteht die erste große Herausforderung dieses Jahres darin, weiterhin einige kurzfristige Gegenbewegungen in Kauf zu nehmen, denn die Volatilität dürfte aufgrund der zahlreichen Ängste der Anleger auf hohem Niveau bleiben. Die zweite Herausforderung wird darin bestehen, Wendepunkte zu finden, an denen wir uns langfristig auf attraktiven Niveaus positionieren können.

 

[1] Performance der Net-Return-Indizes, in EUR, per 30.12.2022, Quelle: Bloomberg. Europäische Aktien: MSCI Europe, US-Aktien: S&P 500, Schwellenländeraktien: MSCI Emerging Markets. Wertentwicklungen der Vergangenheit sind keine Garantie für zukünftige Ergebnisse und können sich im Laufe der Zeit ändern.
[2] Der frei verfügbare Cashflow (bzw. Free Cashflow) gibt Aufschluss über die Fähigkeit eines Unternehmens, zusätzliche Mittel zu generieren.
[3] Die Kerninflation ist die Schwankung der Kosten für Waren und Dienstleistungen ohne Nahrungsmittel und

  • Geoffroy Goenen
    Geoffroy Goenen
    Head of Fundamental European Equity Management

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